Überschrift Robert Oberbeck

Wer dem merkwürdigen Beruf des politischen Liedermachers nachgeht, der kommt vermutlich kaum noch hinterher in den letzten Jahren – angesichts der schnellen Abfolge von Katastrophen, Krisen und ihren oft hässlichen Niederschlägen bis tief in die privaten Beziehungen hinein. Doch der Marburger Robert Oberbeck, der mit „HEAL“ sein mittlerweile sechstes Album vorlegt, ist kein politischer Songwriter. Und das ist gut so. Die Alltagskämpfer und Kleinstadthelden, die Zweifler, die Ausbruchssehnsüchtigen und die Rückzugsbedürftigen, von denen Oberbeck immer wieder neu erzählt, sie sind alle auf der Suche nach ihrer eher kleinen Flucht. Sie legen Hoffnung auf ihr Bisschen Heilung in das Wiedersehen mit alten Freunden oder auch darein, dass mit der Liebsten doch noch einmal alles wieder gut wird. Auch auf dem neuen Album bleiben Parolen, Anklagen, bleibt überhaupt alles Weltlagenmäßige draußen.

Eskapismus spielt sich beim Personal der Oberbeck-Songs schon immer eher in den Köpfen ab – jene Köpfe sind doch allemal Welt genug. Und doch: Gegenüber der letzten Platte Soul Bullett aus dem Jahr 2018 hat sich so unscheinbar wie merklich etwas verschoben. Die privaten Bedrängnisse – auch wenn sie erneut privat bleiben, scheint ihnen nun die Gewalt des großen Ganzen unmittelbarer eingeschrieben. Vielleicht war es ja nur das vergängliche Glück des privaten Unglücks, dass es von den großen Katastrophen „da draußen“ nichts wissen musste. Oberbeck wird auch dieses Mal nie politisch explizit; nirgends wird sozialkritisch ausgepinselt. Aber man muss wohl nicht viel hereinlesen, um die Zeilen beispielsweise von „Dancing in my Livingroom“ anders zu hören, als man es noch vor einigen Jahren getan hätte – als wir noch nicht gewusst hätten, was wohl ein Lockdown“ sein mag. Den Lieblingssong laut ins Ohr, nicht auf der Party, nicht im Konzert, sondern alleine tanzend und hüpfend im eigenen Wohnzimmer – „against the pain and the rest of it all“, ja konkreter: gegen die „Newsreels in my head“. Die Welt wie sie draußen aussieht – sie ist hier so präsent wie bei vielen politischen Liedermachern.

Musikalisch verweigern die Lieder auf kurzweilige Weise immer wieder die Eindeutigkeit:
Ob sie die Finsternis dessen, wovon hier geflohen wird, orchestrieren – oder doch eher das Glück des kleinen Entkommens, mal zart mal trotzig. Es kann passieren, dass ein Song beim ersten Hören traurig und beim zweiten hoffen macht. Das zieht sich von den Texten bis in die Harmonien und die kleinen Seiten Melodien. Der Song „Bridge of Good Hope“, adressiert an den namenlosen alten Freund aus Jugendtagen, eigentlich ein Lied über Vergänglichkeit, wird im geraden, Tom-Petty-haften Rock-Refrain zur Hoffnungs-Hymne: Genau jetzt wäre es doch Zeit, sich wieder am alten Ort zu treffen, so viel hat sich nicht erfüllt – aber wer weiß, da geht doch noch was.

Tom Ripphahn, Oberbecks Produzent im Karbener AnalogohausStudio, hat erneut ungemein sorgsam das Ungehobelte zum Klingen gebracht, ohne es zu tilgen: Akustik- und E-Gitarren harmonieren blendend, einerseits klingen sie so, als spielten sie das erste Mal zusammen – aber gerade deshalb passt anderseits der Sound, das Stereobild, passt jedes Fill und jeder Ton. Dieser Sound – wie live, wie eine Session, aber eben eine tontechnisch blendend konservierte – kennzeichnet eine Musik, die eines nicht sein will: poliert. Es sind Lieder, nicht „Werke“ oder „Projekte“. Auch die Songwriter-Mittel bleiben die Hergebrachten: einfache Akkordfolgen, die tragende RhythmusAkustikgitarre, der raue und doch zarte Gesang im Dialog mit angezerrten E-Gitarren-Fills und der bluesigen Mundharmonika. Mehrstimmige Gesangs-Parts, dort wo ein Refrain oder ein Strophenende sich öffnet. Dazu in nahezu jedem Lied ein funkelnder Refrain mit starker Hook. Ohne Springsteen gäbe es die Musik Oberbecks nicht, und ohne Glen Hansard und Damien Rice klänge sie zumindest grundlegend anders.

Es gibt einige Songs, in denen Oberbeck neue musikalische Formen ausprobiert. Piano-Balladen zum Beispiel suchte man bisher vergeblich auf seinen Alben: Hier begleitet Torsten Mihr zwei großartige. Und auch an der pandemiebedingten Explosion des Absatzes an E-Drums und Synthesizern scheint Oberbeck Anteil gehabt zu haben: In „The Wind And The Waves“ bleibt unaufgelöst, ob die unheimlichen nächtlichen Anrufe, die hier den monadischen Ich-Erzähler heimsuchen, eher bedrohen oder eher etwas verheißen. Die Band tönt ebenso wie der Text ins sphärig-e-drummig Offene und heizt mit dem WüstenTremolo auf der E-Gitarre doch auf wie eine Hochsommernacht.

Auch der düsterste aller Songs bedient sich dieser neuen Mittel – Synthie- Melodie, elektronisches Schlagzeug, Effekt-Gitarre: Hier, bei „I Wish I Could Have Stopped You“ bleibt jede Hoffnung aus. Das Lied schildert in wenigen Tupfern, was ein Amoklauf bei Hinterbliebenen an Verheerungen anrichtet. Der Ich-Erzähler schildert einzig seine Leere; die Musik schwillt an und kippt in die schreiende Wut.

Sting hat vor einigen Monaten in einem langen Interview über das Verschwinden der Bridges in der heutigen Popmusik nachgedacht: von jenen melodisch und harmonisch vom Strophe-Refrain-Wechseln abgehobenen Mittelteilen also, häufig in einer neuen Tonart, die den Song vor dem letzten Refrain noch einmal an einen anderen Ort treiben: Wo diese Teile, wie heute meistens der Fall, fehlen, da vermisst Sting die „Lösung“, das Entkommen aus den zuvor musikalisch geschilderten Bredouillen. Popmusik, so lässt sich Sting verstehen, ist bis in Akkordwahl und Arrangement hinein ein Rauswollen, Anderswollen. Heute bleibt sie zu oft „drinnen“. Oberbeck schreibt Akkordfolgen, die weiß Gott einfacher als die Stings sind; mehr als einmal erinnern sie eher deutlich an die Counting Crows. Aber bei ihm gibt es noch Bridges – und zwar zahlreich, fast immer. Nicht bloß darin ist das neue Album eine Musik des Rauswollens. In den aufbauenden Refrains ist sie aber auch eine des Rauskönnens. Denn vielleicht sind die Menschen, die sich im gemeinsamen Rauswollen erkennen (und sei es mit Kopfhörer im Ohr tanzend im eigenen Wohnzimmer) ja auch schon einen ersten Schritt draußen.